9. UNDERDOX Filmfestival: Italienisches Experimentalkino, chinesisches Cinéma vérité und die neoliberale Farce des Kunstmarkts
Der 1937 in Italien geborene Carmelo Bene war schon als Theaterregisseur enfant terrible der Kunstszene. Sein Ruf als guitto, ein sich über alle Konventionen hinwegsetzender Künstler, steigerte sich nochmals, als er 1969 mit NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI seinen ersten Film realisierte. Sein Angriff auf alles Heilige, auch der Kunst, versetzte das damalige Italien in einen regelrechten Schock. Seinem phantasmagorischen Kaleidoskop entsteigt der kollektive Alptraum von 1480, als die türkische Flotte in Apulien einfiel und ein Massaker an den Einwohnern beging. – „It made no sense whatever“, attestierte– „Sight and Sound“ euphorisch , eine „neoexpressionistische Explosion von einmaliger Art“, nannte Amos Vogel den Film. Noch heute gilt der 2002 verstorbene Carmelo Bene, der insgesamt nur fünf Filme realisierte, als Meister des experimentellen Films und NOSTRA SIGNORA als sein Chef d’œuvre.
UNDERDOX widmet in seiner 9. Ausgabe zwei Programme dem italienischen Avantgardefilm. Bene war eng mit Alberto Grifi verbunden. Mit LA VERIFICA INCERTA schuf dieser 1965 (zusammen mit Gianfranco Baruchello) einen Meilenstein des Montagefilms. „LA VERIFICA INCERTA montiert elegant und polemisch. Der Schuss-Gegenschuss erfährt hier die heitere Demontage“, schrieb Harun Farocki zur Wiederentdeckung des Films vor zwei Jahren, den UNDERDOX zusammen mit einigen anderen zentralen internationalen Found-Footage-Werken zeigt.
Kunst wurde in den letzten Jahrzehnten buchstäblich vom Kunstmarkt verschlungen – kontrolliert von einem von Kunsthistorikern und Kuratoren ausgegebenen Diskurs und unter strengen Regeln der Vermarktung. UNDERDOX eröffnet am 9. Oktober mit dem Spielfilm ICH WILL MICH NICHT KÜNSTLICH AUFREGEN des Berliner Regisseurs Max Linz – stilsichere Farce aus dem neoliberalen Berlin und zugleich politisches Manifest über „Das Kino, das Kunst“.
Inwiefern die Regeln des Kunstmarktes internationale Berühmtheit fördern, oder auch nicht, lässt sich bei den Künstlern Ai Weiwei und Wang Bing beobachten. Beide machen systemkritische Kunst in den Dimensionen des Monumentalen. Während sich Ai Weiwei an den Werten des alten Chinas medienwirksam abarbeitet, erstellt Wang Bing, der 2003 mit dem neunstündigen WEST OF THE TRACKS international bekannt wurde, meisterliche, aber unaufgeregte Dokumentarfilme in der Tradition des Cinéma vérité. Wang Bings Filme sind stille Beobachtungen in der Dauer. Sein letzter Film, ’TIL MADNESS DO US PART (2013), führt in eine psychiatrische Anstalt in Yunnan und zeigt die nackte Existenz der vom Modernisierungswahn Ausgeschlossenen. „Was bringt Ihnen das Filmemachen?“, wurde Wang Bing kürzlich in einem Interview gefragt. Seine Antwort war: „Armut.“
09. UNDERDOX Filmfestival, Donnerstag, 9. Oktober, bis Mittwoch 15. Oktober 2014, im Filmmuseum München, Werkstattkino und in der Galerie der Künstler.
Das genaue Programm mit allen Titeln, Spieldaten und -orten finden Sie ab Mitte September unter www.underdox-festival.de.