Mit den Ohren sehen, mit den Augen hören. Die filmische Synästhesie überwältigt und differenziert die Sinne. Wie spricht der Film zu uns, wenn sich das eine entzieht, das andere unsere ganze Aufmerksamkeit bekommt, wenn unsere Sinne geschärft werden? Was ist, wenn der Film stumm wird, oder die Bilder blind?
Alles, was unsere Aufmerksamkeit braucht, alles, was unser Bewusstsein schärft: Das ist die Awareness, die wir meinen, jenseits esoterischer Einkehr.
Opening: Silence (Alegria)
Der Spanier Oskar Alegria, ehemals künstlerischer Leiter des renommierten Filmfestivals Punto de Vista in Pamplona-Navarra, ist ein Meister im Aufspüren der Zwischentöne, des Ungesagten, des Unsichtbaren. In unserem Eröffnungsfilm ZINZINDURRUNKARRATZ (uraufgeführt auf dem Telluride Filmfestival) sucht der Filmemacher den Weg in die Berge, den früher die Hirten mit ihren Ziegen und Schafen nahmen – aber er kann niemanden mehr finden, der ihm den Weg weisen könnte. Mit der alten Super-8-Kamera seiner Familie, die nach 41 Jahren Stillstand keinen Ton mehr aufzeichnet, macht er sich mit dem Esel Paolo auf die Suche. Der vergessene Weg, die stumme Kamera und der ratlose Esel werden zu den Protagonisten einer Reise voller Erinnerungen, Fragezeichen und Stille: Der Eröffnungsfilm des 19. Underdox erzeugt subtile Aufmerksamkeit an der Schwelle zur Awareness, der Bewusstseinsbildung für unsere Welt. Oskar Alegria ist zu Gast.
Center Piece: Blindness (Schtintner)
Der „Witchfinder General of cultural complacency“, Hexenjäger der kulturellen Selbstgefälligkeit, nannte die Filmzeitschrift „Sound & Sight“ den US-amerikanischen Avantgarde-Filmemacher Stanley Schtinter. Und der mischt die selbstgefällige Filmlandschaft gehörig auf. Mit einem illustren Cast aus Julie Christie, Stephen Dillane, Toby Jones, Stacy Martin und Hanns Zischler hat er SCHNEEWITTCHEN nach dem Dramolett des Schweizer Autors Robert Walser inszeniert. Erzählt wird das Märchen nach der Rettung Schneewittchens: archetypische Mit- und Gegenspieler – die Königin, der Jäger, der Prinz und der König – kommen zusammen, um die Vorgeschichte zu analysieren und zu kommentieren.
Der Film ist eine Hommage an den eminenten portugiesischen Regisseur João César Monteiro, dessen BRANCA DE NEVE folgende Legende begleitet: Angeblich hatte Monteiro beim Dreh aus Versehen seinen Mantel über die Kamera gehängt, so dass kein Bild aufgenommen wurde. Anstatt aber die Aufnahmen zu verwerfen, nahm er den Schwarzfilm mit den Off-Stimmen und deklarierte ihn zum Werk. Auch bei Schtinter gibt es von den hochgradigen Schauspielern nur die tollen Stimmen zu hören. Nur zu sehen, etwa alle zehn Minuten: grobkörnige 16mm-Ansichten von einem blauen Himmel mit weißen Wölkchen, gefilmt vom Independent-Kameramann Sean Price Williams. Der kanadische Dokumentarfilmer Joshua Bonnetta montierte die Aufnahmen.
– Ein Film, um im Dunkeln zu sehen.
Closing: Blurred, Glitch, Neon, Noise (Khavn)
Kontrapunktisch zur Stille und Dunkelheit wirkt der philippinische Filmemacher und Musiker Khavn, der mit seinen starken Film-Exklamationen immer wieder aufs Neue zu erstaunen vermag. Für ORPHEA (2020) hat er mit dem heute über neunzigjährigen Alexander Kluge zusammengearbeitet. Die deutsche Ausnahmeschauspielerin Lilith Stangenberg spielt wie damals auch in MAKAMISA: PHANTASM OF REVENGE (2024, uraufgeführt auf dem FIDMarseille). Kraftvoll anti-kolonialistisch, ein Non-sequitur, ist der Film. Oder: „ein Monstrum von einem Film, sowohl episch als auch persönlich und radikal, Pamphlet, historische Saga, intimer Roman und Parabel“ (Nicolas Féodoroff). Khavn, derzeit Artist in Residence des DAAD in Berlin, ist als Artist in Focus zu Gast beim 19. UNDERDOX. MAKAMISA ist unser Abschlussfilm, gefolgt von einem Ciné Concert mit Khavn (Klavier) und Babel Gun (Drums).