Was will der Tanz vom Film, was kann der Film für den Tanz? Beide Disziplinen sind Raum und Zeit, so viel steht schon einmal fest. Rezeptionsästhetisch sehe er mehr Gemeinsamkeiten zwischen Film und Tanz als zwischen Tanz und Theater, sagt Micha Purucker, der sich seit vierzig Jahren intensiv mit dem Wechselspiel von Choreographie und filmischer Regie auseinandersetzt. Seinen Tänzerinnen und Tänzern zeigt er zur Einstimmung oft Filme. Den Bühnenraum nimmt er wie ein Filmsetting, und als Corona kam, übergab er seine Inszenierungen einem ausgefeilten Kamera-Travelling, das er als dritter Protagonist auf der Bühne selbst führte. Judith Hummel hat sich zuletzt in dem dokumentarisch-choreographischen Triptychon „Wo komme ich her?“ mit ihrer Herkunft auseinandergesetzt. Sie verbindet den Körper mit der Sprache, das Gehen mit dem Stehen, das Posieren mit dem Pausieren. Bewegung kommt bei ihr aus der Alltäglichkeit, fließt über in die Bewusstheit, verbindet sich mit dem Denken und mit dem Raum. Der ist nicht zwingend der Bühnenraum. Fast mehr noch interessiert sich Judith Hummel für das natürliche Setting einer Bewegung: die Straße, ein Spielplatz, ein Keller. Stephan Herwig, bekannt für seine abstrakten Bühnenstücke, transportiert in seiner jüngsten Arbeit den tänzerischen Körper in verschiedene Environments, perspektiviert ihn mit der Kamera, fängt ihn im Close-up ein und lässt ihn in der Totalen wieder los. Ein Wald und eine Unterführung ergeben unterschiedliche Moods – das ist nur in der filmischen Darstellung möglich. |
Micha Purucker: housing the temporary
Micha Purucker
Seit 40 Jahren Choreograph und Filmfan. Sein Ansatz: physisch, situativ, atmosphärisch. Seit den 80er-Jahren filmische Arbeiten in Super8, 16mm, 35mm und digitalen Formaten, die in Aufführungen, Installationen und Stream eingesetzt werden. Er ist Gründungsmitglied der Tanztendenz München.
Choreographien (Auswahl)
Failed ascension 1986 | A fall from grace 1988 | How to destroy angels 1989 | Bodymapping 1995 | we believe in miracles … 2003 | message from oxygene 2007 | enfleshings after lassnig, maria 2009 | radio luma : into the night 2013 – 2014 | news garden / private echoes 2011 – 2015 | „nocturne – SAMPA – durch die fenster der nacht“ 2016 | flat rooms – flat dances 2021 | threads + knots 2021 | terrain vague 2022 | 100.80.40 – rats in the living room / études pathétiques 2023 | BABOU – slices of space + time 2023 | episodes of glam + gutter 2024
failed ascension
Micha Purucker
1986
16mm | s/w | 11 min (Kurzversion)
European Art Media Festival Osnabrück 1988
K: Hanno Kampffmeyer
ein dystopisches, aber poetisches stimmungsbild aus der BRD, mitte der achtziger jahre. menschen, wie fledermäuse, wie kakerlaken, schwärmen aus und finden sich in einem labyrinth. vom himmel fallen fallschirmspringer, man vergibt sich …
rede im erdloch
Micha Purucker
Tanzplattform Berlin 1994
Videoloop
K: Rainer Michaelis
choreographie zu einer rede von helmut schmidt. zu gucken auf dem parkplatz des hebbel theater auf einem in die erde versenkten fernseher sowie bei „out of the box“ im alten flughafen riem.
flat rooms – flat dances
Micha Purucker
2021
50 min | videostream
K: Micha Purucker
eine choreographisches relief, live.cam. ohne schnitt, vorbei an einer 30 meter langen wand. die kamera folgt einem tänzer entlang dreier unterschiedlicher hintergründe und situationen.
Judith Hummel: Körper und Erinnerung
Judith Hummel
Geb. 1982 in Freiburg im Breisgau. Studium der Theaterwissenschaft in Musik und Master in Contemporary Dance Education in Frankfurt am Main. Seit 2009 freiberufliche Arbeit im Bereich zeitgenössischer Tanz, Choreografie und Performance. Mitglied der Tanztendenz München.
Choreographien (Auswahl)
AKT 2014 | Papierdialoge 2025 | Wo komme ich her? 2020 – 21
AKT tracing, remembering, finding poses from Venus, Olympia and us
Judith Hummel
2014/2016
1 min
Performance: Naïma Ferré, Ruth
Geiersberger, Heidi Schnirch
K: Felix Pflieger
Drei Frauen unterschiedlichen Alters rekonstruieren und posieren in Aktpositionen verschiedener historischer Epochen bis ins Heute.
77 ways of walking
Judith Hummel
2022/2023
30 min
K: Judith Hummel
Vom November 2022 bis Januar 2023 ist es meine Routine, von meinem Wohn- oder Arbeitsort der Städte München und Frankfurt auf die Straße zu gehen, um Personen aus meinem alltäglichen Umfeld in ihrem Gang zu begleiten. Die Frage ist, wie sie den Satzanfang „Wenn ich gehe…“ beenden würden. Wie unterschiedlich gehen Menschen im Alltag, im Stadtraum? Was sind ihre Gedanken und Wahrnehmungen zum Gehen? – Judith Hummel
Skizze: Menschenknäuel
Judith Hummel
2013
3 min und 8 min
Performance: Judith Hummel, Heidi Schnirch | K: Steffen Düvel
Zwei Menschen verknäueln sich zu einer Körperskulptur im öffentlichen Raum. Gedanken an Schutz, Ausgeliefertsein, Selbstvergewisserung. Wie ändert sich die physische Semantik mit der wechselnden Umgebung?
Stephan Herwig: Kreation und Raum
Stephan Herwig
Tänzer und Choreograph. 2018 Förderpreis der Stadt München für herausragende künstlerische Leistungen im Bereich Tanz, 2019 – 2021 Optionsförderung der Stadt München. Mitglied der Tanztendenz München.
Choreographien (Auswahl)
the sanctuary project 2006 | Somewhere 2010 | Unleashed 2014 | Monument 2015 | Schweifen 2016 | Rhythm & Silence 2019 | In Feldern 2020 | The Lovers 2021| Les Préludes 2022 | My Body Is a Monument 2022 – 24
My Body Is A Monument
Stephan Herwig
2024
2×11 min
Tanz: Anima Henn | M: Daniel Door
Das Solo aus dem Stück „Monument“ (2015) ist ein Manifest der Körperlichkeit. Wiederkehrende skulpturale Bewegungsmuster verankern sich in Raum und Zeit, ohne physische Spuren zu hinterlassen. Es setzt sich in temporären Dialog mit den Räumen, in denen es aufgeführt wird: mit der neuen Spielstätte des schwere reiter in München, mit den Ausstellungsräumen der Pinakothek der Moderne. Seit 2024 existiert es in zwei Kurzfilm-Versionen, jetzt in einem permanenten, medial gebannten Dialog mit einer Unterführung und einem Wald. Das ist: Urbanität und Natur, Flatness und Raumtiefe. Wenn die Tänzerin am Ende den Kameraausschnitt verlässt, bleibt der Raum alleine zurück. Der tanzende Körper: ist nur noch Erinnerung.